Notwendige Laster
Es wird selten geleugnet, dass in Gesellschaften, die der unseren auch nur im Entferntesten ähneln, eine beeindruckende Palette von Lastern oder menschlichen Schwächen zu sehen ist. Heuchelei, Habgier, Grausamkeit, Vorurteile, Neid, Sentimentalität, Unehrlichkeit, Selbstüberschätzung… das sind nur einige davon. Was aber, wenn viele dieser Laster nicht einfach nur vorhanden, sondern sozusagen in das menschliche Leben, wie wir es kennen, eingebrannt wären? Wie würde es sich auf ein moralisches Urteil über die Menschheit auswirken, wenn unsere Schwächen notwendig für unsere Art zu Leben wären?
Die Antworten auf diese Frage werden unterschiedlich ausfallen. Für manche Menschen bestätigt die Notwendigkeit von Lastern lediglich ihre ohnehin schon düstere, pessimistische Einschätzung der menschlichen Natur. Für andere hingegen ist es sinnlos, Schwächen zu beklagen, ohne die die Vorteile und sogar die Existenz unserer Zivilisation unmöglich wären. Bevor wir diese Antworten beurteilen können, müssen wir die Idee notwendiger Laster konkretisieren. Schauen wir uns also einige Autoren an, die sich für diese Idee eingesetzt haben.
Doch zuvor ist es wichtig, diese Idee von einer weniger umstrittenen Idee zu unterscheiden. Man muss kein Utilitarist sein oder der buddhistischen Lehre vom “Geschick im Umgang mit den Mitteln” anhängen, um zu akzeptieren, dass unter bestimmten Umständen eine ansonsten falsche Handlung gerechtfertigt ist. Man denke zum Beispiel an die Lüge, die man einem Sterbenden erzählt, um kein unnötiges Leid zu verursachen; oder an die Tötung eines potenziellen Mörders, um Leben zu retten. Etwas anderes ist es jedoch, Laster oder Fehler zu dulden nicht aufgrund außergewöhnlicher Umstände, sondern weil sie im Alltagsleben eine strategische Rolle für das Funktionieren der Gesellschaft und Wirtschaft spielen.
Es sind diese strategischen Rollen, die im Fokus einiger scharfer Beobachter der moralischen Verfassung der Menschheit standen. Sie argumentierten, dass Laster ebenso wichtig sind wie Tugenden, um die Vorteile und Stabilität komplexer sozialer Systeme wie des unseren zu sichern. Für den Duc de la Rochefoucauld im 17. Jahrhundert sind einige der „unzähligen Mängel, die in [unseren] scheinbaren Tugenden zu finden sind“, genauso notwendig, um die „Übel des Lebens“ zu lindern, wie die Giftstoffe, die in einigen Arzneien enthalten sind. Die Heuchelei zum Beispiel, die Lippenbekenntnisse zum moralischen Verhalten abgibt, fördert es auf eine gewisse Weise, während die vorsätzliche Selbsttäuschung nur das eigene Selbstwertgefühl und die Selbstzufriedenheit bestärkt.
Bernard Mandevilles Fabel der Bienen war ein halbes Jahrhundert später ebenso - oder sogar noch mehr - eindringlich: unsere “schlimmsten” Qualitäten sind “die notwendigsten Fertigkeiten”, um in “den glücklichsten und florierendsten Gesellschaften” zu schaffen und zu gedeihen. Es ist Neid, Luxusliebe, Eitelkeit und Wechselhaftigkeit des Geschmacks, die zum Beispiel die Industrie und den Handel blühen lassen. “Sobald das Böse aufhört”, fügt er hinzu, “muss die Gesellschaft zerstört werden”.
Der Philosoph E.M. Cioran aus dem 20. Jahrhundert schließt sich diesen Worten an und erklärt: “Wenn wir unsere Sünden ausrotten, verdorrt das Leben sofort”. Skrupelloser Opportunismus, Intoleranz, Vorurteile und Selbstbetrug gehören zu den “Defekten”, die dieser in Rumänien geborene Schwarzseher für das Überleben von Nationen, Gesellschaften und Individuen für unerlässlich hält.
Die Frage, wie die Idee der notwendigen Laster die Beurteilung der moralischen Verfassung der Menschheit beeinflussen sollte, ist natürlich uninteressant, es sei denn, die Idee ist zumindest plausibel. Ich behaupte, dass sie mehr als das ist: Sie ist überzeugend. Eine schnelle Widerlegungt wird sicherlich erfolglos sein. Jemand – vielleicht Machiavelli oder auch manchmal Cioran – könnte argumentieren, dass, wenn unsere Fehltritte eine strategische Rolle bei der Erhaltung der Gesellschaft spielen, eigentlich keine Fehltritte oder Laster mehr sind. Wenn Heuchelei, sagen wir, dazu beiträgt, moralische Überzeugungen zu stärken, dann macht der Heuchler nichts falsch.
In diesem Zusammenhang sollten wir uns an La Rochefoucaulds Analogie zwischen Lastern und Giften erinnern. Dass ein Giftstoff eine Zutat in einer nützlichen Medizin ist, bedeutet nicht, dass er kein Giftstoff ist. Im Gegenteil: gerade weil er eines ist, ist er medizinisch wirksam. Unter Verwendung seiner eigenen medizinischen Analogie bringt David Hume den gesunden Menschenverstand auf den Punkt: So wie jemand seine Gicht nicht begrüßen wird, nur weil er erfährt, dass sie ihren Platz im Gleichgewicht des Universums hat, wird er auch nicht die Gier eines Räubers gutheißen, wenn er erfährt, dass auch diese Gier zu einer harmonischen Weltordnung beiträgt. Die Gier bleibt ein Laster – etwas, das zu verurteilen ist – egal, welche nützliche Rolle sie in der Gesellschaft als Ganzes haben mag.
Die Idee notwendiger Laster kann nur durch einen sorgfältigen Nachweis widerlegt werden, dass keines von diesen Lastern für die Aufrechterhaltung der Gesellschaft nötig ist. Aber der utopische Glaube an die Macht der moralischen Erziehung, die Wirksamkeit von Sozialreformen, ökonomischen Arrangements, politischen Ideologien, Therapien, Predigten und Überredung, um eine lebensfähige Gesellschaft zu schaffen, aus der die Laster vertrieben wurden, ist… nun ja, utopisch.
Es ist ein Glaube, der davon ausgeht, dass jeder Mensch im Grunde genommen in einer Welt ohne Laster leben möchte, und dass das Problem lediglich darin besteht, die Hindernisse auf dem Weg zu diesem Ziel zu beseitigen. Aber kein Leser von La Rochefoucauld und seinen Nachfolgern konnte diese Annahme ernst nehmen.
Ihre Sprache mag übertrieben sein, aber diese Autoren haben Recht, wenn sie viele Schwächen sozusagen als Teil des Gerüsts der Gesellschaft betrachten. In jeder Gesellschaft, die von sozialen und wirtschaftlichen Hierarchien geprägt ist, in der Mangel an materiellen Gütern existiert, konkurrierende Gruppeninteressen, Leistungsdrang und ungleiche individuelle Fähigkeiten, werden Laster zwangsläufig ihren Beitrag leisten. Unaufrichtigkeit und Schmeichelei, zum Beispiel, helfen, die Räder des gesellschaftlichen Umgangs zu ölen; Eitelkeit, Eifersucht und aggressiver Ehrgeiz motivieren Hochleistungen in Wissenschaft, Sport und Wirtschaft; Selbstbetrug und Missachtung anderer stärken das Selbstwertgefühl der weniger Begabten.
All dies soll nicht heißen, dass wir nicht zumindest versuchen können, uns Gemeinschaften vorzustellen, die frei von allen Lastern sind. Aber früher oder später werden wir feststellen, dass wir uns Gemeinschaften vorstellen, deren Lebensformen sich so sehr von unseren unterscheiden, dass sie kaum noch als menschlich gelten können. Wir werden feststellen, dass wir uns stattdessen Chöre von Engeln vorstellen. Es ist lehrreich, dass Denker, die sich solche Gemeinschaften vorstellen, betonen, dass sie sehr weit von einer typisch menschlichen Form des Lebens wegführen. Dem Buddha zufolge sind es zum Beispiel die sogenannten “weltlichen Verhältnisse”, die “die [menschliche] Welt in Bewegung halten”. Dazu gehören die Beschäftigung der Menschen mit Gewinn und Verlust, Ruhm und Verruf, sowie Lob und Tadel. Genau diese Sorgen sind es, die den geschickten Einsatz der Laster erfordern. In einer Gemeinschaft von erleuchteten Buddhistischen Weisen hingegen ist die menschliche Welt “überwunden”: ihre Mitglieder, befreit von menschlichen Begierden und Wahrnehmung, halten nichts mehr für wertvoll, was die “gewöhnlichen Weltlinge” schätzen. Sie haben die menschliche Welt “transzendiert”.
Es ist erwähnenswert, dass heute, mehr als zwei Jahrtausende später, Menschen, die sich ein zukünftiges Paradies mit überlegenen, gentechnisch veränderten Kreaturen vorstellen, mit Bedacht Begriffe wie “posthuman” oder “transhuman” verwenden, um eine solche Zivilisation zu beschreiben. Der Begriff “Mensch” wäre eine schlechte Wahl, um Wesen zu beschreiben, die, wie einige Transhumanisten behaupten, keinen Schmerz, keine Emotionen, und keine Bedürfnisse rein biologischer Körper fühlen werden.
Kurzum, die Vorstellung, dass der Mensch ein Wesen ist, für das Laster und Schwächen notwendig sind, ist überzeugend. Ein Zustand, in dem diese entbehrlich sind, ist nicht mehr als menschlich zu erkennen. Um also auf meine ursprüngliche Frage zurückzukommen, wie beeinflußt die Annahme dieser Idee unser Urteil über unseren moralischen Zustand als Menschen? Bestärkt sie ein misanthropisches und pessimistisches Urteil über uns, oder macht sie ein solches Urteil sinnlos?
Ich selbst sympathisiere mit der ersten dieser Antworten. Dass Formen des menschlichen Lebens mit Lastern und Schwächen durchsetzt sind, ist schlimm genug; dass sie es zwangsläufig sind, ist noch schlimmer. Manche Pessimisten, obwohl sie skeptisch sind, was die Aussichten auf eine radikale Verbesserung unserer moralischen Bedingungen betrifft, schließen die Möglichkeit nicht völlig aus. Denken Sie zum Beispiel an einen Marxisten, der zweifelt, aber immer noch die Hoffnung hegt, dass die idyllische postkapitalistische Zukunft, die sich Marx vorgestellt hat, eintreten wird. Die Einsicht, dass einige unserer schwerwiegendsten Fehler unausrottbar sind, kann den Pessimismus dieser Person nur noch verstärken. Außerdem haben wir bereits festgestellt, dass optimistische, utopische Szenarien einer Welt ohne Laster durch die Notwendigkeit unserer Beschränkungen ausgeschlossen sind. A lasterlose Welt wäre keine erkennbar menschliche Welt.
Die Notwendigkeit von Lastern verleiht auch den Aussagen einiger berühmter Pessimisten Kraft und Schärfe. Das Dasein – insbesondere die menschliche Existenz – ist “böse”, erklärte der große italienische Dichter Giacomo Leopardi. Was ihn zu dieser Überzeugung bringt, ist nicht nur was er am menschlichen Verhalten beobachtet, sondern die Erkenntnis, dass dass unsere Existenz “ihrer Natur und ihrem Wesen nach” voll von Unvollkommenheit ist. Das Menschengeschlecht, fügt er hinzu, ist nicht nur unglücklich, sondern “notwendigerweise unglücklich”.
Oder denken Sie an einige von Arthur Schopenhauers notorisch negativen Äußerungen. Unsere Existenz ist ein Irrtum, schreibt er, und “unsere ist die schlechteste aller möglichen Welten”. In diese Äußerungen fließt ein, dass er die Notwendigkeit unserer vielen Schwächen erkennt. Etwas zu entwerfen, das versagen muss, ist ein Fehler, aber ein noch größerer Fehler ist es, wenn der Entwurf garantiert, dass es so kommen wird. Und obwohl wir uns vielleicht etwas bessere menschliche Welten als unsere eigene vorstellen können, werden sie nicht radikal besser sein, wenn sie zwangsläufig mit denselben Lastern behaftet sind wie unsere. Einige von Ciorans düstersten Äußerungen – “Geboren werden ist eine Katastrophe”, “die Gesellschaft ist ein Desaster” und so weiter – ist seine Überzeugung, dass solche Schwächen wie Intoleranz und Rachsucht “Notwendigkeiten” sind und “das Gesetz der menschlichen Angelegenheiten” darstellen.
Wie aber könnten diese Pessimisten der Behauptung eines Kritikers entgegentreten, dass die die Notwendigkeit unserer Laster es müßig macht, sie anzuprangern? Und es daher irrational ist, sie in ein Urteil über unseren moralischen Zustand einfließen zu lassen? Besucher der schottischen Highlands mögen vielleicht den starken Regen nicht, aber sie sollten ihn in Kauf nehmen, denn ohne ihn gäbe es keine rauschenden Flüsse und malerischen Seen, die sie genießen könnten. Der Regen kann den Wert eines Ortes nicht schmälern, der ohne diesen Regen nicht existieren würde. Ähnlich, so wird man argumentieren, ist es sinnlos und irrational, unsere Einschätzung des Wertes der Menschheit zu ändern, nur weil man Mängel bemerkt, die für die menschliche Existenz wesentlich sind. Diese Einschätzung mag ohnehin nicht hoch sein, aber die Notwendigkeit unserer Laster sollte sie nicht niedriger machen.
Der Pessimist und Menschenfeind kann dem Kritiker in der Tat zustimmen, dass es müßig und irrational ist, unsere notwendigen Laster anzuprangern. Da sie doch nicht ausgerottet werden können, ist es in der Tat eine sinnlose Energieverschwendung, sich in eine wütenden, faustschüttelnden Polemik gegen diese Laster zu ergehen. Die Kritik ist, mit anderen Worten, wirksam gegen bestimmte Arten von Misanthropen – wie dem, den Kant als “Feind der Menschheit” bezeichnete: einen, der gegen das menschliche Dasein überhaupt wütet. Oder einen fanatischen Menschenhasser mit, wie William Hazlitt es ausdrückte, “der virulentesten Intoleranz gegenüber menschlichen Schwächen”.
Aber wenn man dieses “Anprangern” im schwächeren Sinne von “ein negatives moralisches Urteil zu fällen” versteht, dann ist es schwer einzusehen, weshalb wir die notwendigen, aber auch unnötigen Laster nicht anprangern sollten. Das nicht zu tun, kommt der früher abgelehnten Ansicht nahe, dass notwendige Laster eigentlich gar keine Laster sind. Hier ist es sinnvoll, noch einmal Humes gesunden Menschenverstand in Erinnerung zu rufen: unsere unmittelbaren, natürlichen Antipathien – gegenüber dem, was wir zu Recht “Laster” nennen – können nicht durch metaphysische oder soziologische Betrachtungen über den strategischen Platz der Laster in der Welt ausgeräumt werden. Wenn wir nicht anders können als die notwendigen Laster anzuprangern, dann muss dieses Anprangern aus den bereits erwähnten Gründen – dem Scheitern von utopischen Hoffnungen, zum Beispiel – sicherlich eine misanthropische, pessimistische Beurteilung der Menschheit verstärken.
In der Beurteilung des Kritikers ist vielleicht der Gedanke enthalten, dass es müßig wäre, etwas zu verurteilen, wenn man nicht zumindest versuchen kann, es zu beseitigen oder abzumildern. Andernfalls wird man sich fragen, ob man den Mißstand wirklich anprangert, oder nur viel darüber redet. Nun ist es wahr, dass das negative Urteil, um echt zu sein und nicht nur Gerede, Auswirkungen auf unser Verhalten, unsere Gefühle und Einstellungen haben muss. Aber diese müssen nicht die Form von vergeblichen Versuchen der Ausrottung oder Reform von Lastern annehmen. Eine weitere Art von Misanthrop bei Kant ist der Menschenflüchtige, jemand der, zumindest vorübergehend, vor einer Welt flieht, von der er befürchtet, dass sie ihn korrumpiert. Der Flüchtige weigert sich, die negativen Seiten der menschlichen Natur zusammen mit den positiven zu akzeptieren. Er meidet beides – wie jemand, der, statt den Regen in Schottland zu ertragen, das Land gänzlich meidet.
Auf der anderen Seite gibt diejenigen, die das negative Urteil des Misanthropen gutheißen, aber, statt den buchstäblichen Rückzug des Flüchtigen aus der menschlichen Welt anzutreten, ruhig und unauffällig in dieser Welt leben – wobei sie aber eine gewisse Distanz zu ihren Machenschaften und Verstrickungen halten. Dies ist die “ironische” Existenz, wie sie von daoistischen Weisen wie Zhuangzi empfohlen wurde. Für ihn ist die menschliche Welt unrettbar durchsetzt mit Laster und menschlichem Versagen. Das Beste, was jemand, der dies erkennt, tun kann, ist, sich ohne Aufhebens und Geschrei von den Dingen des Lebens fernzuhalten, in denen unsere Laster unweigerlich ins Spiel kommen.
Die Verurteilung notwendiger Laster ist nicht sinnlos, wenn sie sich nicht nur in nutzlosem Protest gegen das Universum erschöpft, sondern zu einem bewussten Rückzug aus der menschlichen Welt oder eine distanzierte, quietistische Anpassung an sie führt.
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Ich bin Ian James Kidd für Vorschläge und Kommentare dankbar und habe auch auf seine veröffentlichte Arbeit zur Taxonomie des Misanthropismus zurückgegriffen.
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