Wann hat ein Fötus Rechte?
Was für Rechte kann ein Fötus oder Embryo beanspruchen? Das ist nicht die einzige Frage in der Abtreibungsdebatte, aber es ist trotzdem eine wichtige Frage.
Das zentrale Argument von Anti-Abtreibungs-Aktivisten ist, dass es falsch ist, einen Fötus oder Embryo zu zerstören, weil es das Töten eines Wesens ist, das ein Recht auf Leben hat. Und ein Argument zugunsten des Zugangs zur Abtreibung ist genau entgegengesetzt: dass ein Fötus oder Embryo noch kein Wesen mit Rechten ist. Das ist natürlich nur ein Teil der Argumente für Abtreibungsrechte: Es gibt auch das Argument, dass sogar wenn ein Fötus oder Embryo Rechte hätte, das Recht der schwangeren Person auf körperliche Autonomie Vorrang haben sollte. Oder das Argument, dass ein Verbot von Abtreibungen schädlich für die Gesundheit, Sicherheit und Gleichstellung von Frauen wäre. Es lohnt sich jedoch, die Frage zu erkunden, welche Rechte ein Fötus oder Embryo haben sollte – die Frage nach seinem “moralischen Status”.
Die Frage nach dem moralischen Status ist kompliziert, weil sie von mehreren anderen Fragen abhängt, die verschiedene Disziplinen umfassen: Ethik, Philosophie des Geistes und die Neurowissenschaften. In diesem Artikel werde ich versuchen, fünf dieser Fragen zu analysieren, um ein Gefühl dafür zu bekommen, was einige plausible Antworten sein könnten.
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Welche Merkmale verleihen einem Wesen einen moralischen Status? Dies ist eine Frage der philosophischen Ethik. Die naheliegendste Antwort für die Abtreibungsdebatte ist möglicherweise: die Empfindungsfähigkeit.
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Was ist Empfindungsfähigkeit (oder Empfindungsvermögen)? Das ist eine Frage in der Philosophie des Geistes. Wir müssen die rein körperliche Wahrnehmung eines Stimulus, die bewusste Erfahrung, die er hervorruft, und das kognitive Bewusstsein dieser Erfahrung unterscheiden.
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Was macht uns empfindungsfähig? Welche Hirnstrukturen ermöglichen bewusste Erfahrungen? Dies ist eine Frage die sowohl die Philosophie als auch die Neurowissenschaften betrifft. Obwohl es noch Unsicherheiten gibt, deuten die meisten Hinweise auf den Großhirnrinde.
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Welche Hirnstrukturen haben Embryos und Föten zu verschiedenen Zeitpunkten während der Schwangerschaft? Das ist eine Frage der Entwicklungsneurologie. Es gibt Gründe anzunehmen, dass die Großhirnrinde erst spät in der Schwangerschaft entsteht.
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Schließlich, wie wichtig ist das Potenzial? Wenn etwas noch nicht empfindungsfähig ist, wie viel sollte es dann ausmachen, wenn es in der Zukunft empfindungsfähig werden könnte? Dies ist eine weitere Frage in der Ethik, die aber auch mit der Philosophie des Geistes durch die Frage der persönlichen Identität verbunden ist.
Keine dieser Fragen ist einfach zu beantworten, aber einige Antworten dürften breitere Zustimmung finden als andere. Nachdem wir diese fünf Fragen besprochen haben, werden wir sehen, dass der moralische Status vermutlich erst spät in der Schwangerschaft auftritt, lange nachdem die überwältigende Mehrheit der Abtreibungen stattgefunden hat.
Frage 1: Welche Merkmale verleihen einem Wesen moralischen Status?
Das ist eine sehr komplexe Frage, daher können wir sie nicht in allen Details besprechen – aber drei häufige Antworten sind hier relevant:
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Erstens, manchmal berufen sich Menschen auf fortgeschrittene geistige Fähigkeiten – Dinge wie die Fähigkeit zu sprechen, zu denken, über sich selbst nachzudenken, Dinge aus der Perspektive anderer zu sehen und so weiter. Diese Fähigkeiten scheinen alle spezifisch menschlich zu sein: Keine anderen Tiere scheinen sie zu haben. Nennen wir die Summe dieser Fähigkeiten “Personsein”.
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Zweitens berufen sich manche auf etwas Einfacheres – die Fähigkeit subjektive Erfahrungen zu haben: Emotionen, Wahrnehmungen, Wünsche, Vergnügen und Leiden und so weiter. Diese Erfahrungen scheinen nicht spezifisch menschlich zu sein: Viele Tiere, wie Katzen, Hunde und Vögel, haben wahrscheinlich ähnliche Erfahrungen, auch wenn sie nicht so denken und reflektieren können wie wir. Nennen wir das “Empfindungsfähigkeit”.
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Drittens, menschlich sein könnte ein anderes Kriterium sein: biologisch Mitglied der Art Homo sapiens zu sein. Dies ist keine Frage von besonderen Fähigkeiten: Wenn etwas von Menschen abstammt, ist es auf genetischer Ebene menschlich. Nennen wir das “Menschlichkeit”.
Es ist ziemlich klar, dass ein Fötus oder Embryo keine Person ist, aber es ist zweifellos menschlich. Wenn entweder Personsein oder Menschlichkeit der einzige Grund für moralischen Status wären, dann hätten wir eine klare Antwort.
Die meisten ethischen Theorien sind sich darin einig, dass Personsein moralisch wichtig ist: Es ermöglicht jemandem, Teil einer moralischen Gemeinschaft zu sein, die Rechte anderer wechselseitig anzuerkennen und autonom Entscheidungen zu treffen, die andere respektieren sollten. Wir nehmen normalerweise an, dass Erwachsene Rechte haben sollten, die Kleinkinder nicht haben, zum Beispiel das Wahlrecht. Das ist so, weil Erwachsene Personen sind und Kinder es nicht sind (zumindest nicht in vollem Umfang).
Aber wir denken normalerweise nicht, dass nur Personsein wichtig ist. Wenn Tiere zum Beispiel leiden können, Interesse and der Welt zeigen, Präferenzen und Wünsche haben und Glück erleben können, würden wir nicht sagen, dass das alles für die Moral absolut irrelevant ist, nur weil Tiere keine Personen sind. Tatsächlich ist die philosophische Theorie, die am meisten mit dieser Tier-ausschließenden Haltung verbunden ist, die Kantsche Ethik. Und doch hat eine der prominentesten Verteidiger von Kants Ethik, Christine Korsgaard, viel Arbeit darauf verwendet, zu argumentieren, dass eigentlich Tiere doch einbezogen werden sollten.
Was ist mit der menschlichen Sichtweise – dass biologisch menschlich zu sein, einem moralischen Status verleiht? Kritiker von Abtreibungen scheinen oft darauf zu verweisen dass Abtreibung ‘ein menschliches Leben zerstört’.
Das Problem ist, dass diese Sichtweise, einmal deutlich formuliert, sehr schwer zu begründen ist. Sobald wir sorgfältig unterscheiden, was es bedeutet ‘menschlich zu sein’ von allem, was uns dazu bewegt, an Menschen interessiert zu sein – von wie Menschen lieben, lernen, Neugier und Mitgefühl empfinden können usw. – ist unklar, warum die DNA alleine den moralischen Status eines Wesens bestimmen sollte. Zudem, wenn jemand eine Person ist, aber kein Mensch – wie die Elfen, Roboter oder intelligenten Außerirdischen von Science-Fiction-Geschichten –, sollten diese denn ihren moralischen Status verlieren, weil sie einer anderen Spezies angehören?
Da die Personen-Theorie als extrem erscheint und die Mensch-Theorie theoretisch schwach zu sein scheint, sind viele Philosophen von dem, was manchmal als Empfindungs-Sichtweise bezeichnet wird, angezogen: Der moralische Status hängt von der Fähigkeit zur Empfindung ab. Personsein könnte zusätzliche Rechte verleihen, die wir Erwachsenen zuschreiben, aber Kinder nicht haben, aber Empfindungsfähigkeit ist alles, was man braucht, um irgendeine Art von grundlegenden Rechten zu haben, wie dem Recht zu leben oder vor Leiden geschützt zu werden. Deshalb sollten wir uns fragen: Abgesehen davon, dass ein Fötus menschlich ist, aber keine Person, ist es empfindungsfähig?
Frage 2: Was ist Empfindungsfähigkeit?
Aber was genau bedeutet ‘Empfindungsfähigkeit’? Es gibt viele verwandte Begriffe: Erfahrung, Bewusstsein, Bewusstsein. Die grundlegende Idee ist, dass, wenn ein Wesen empfindungsfähig ist, es sich auf eine bestimmte Weise anfühlt, dieses Wesen zu sein. Zusätzlich zur objektiven Beschreibung, die wir von außen geben können, gibt es eine subjektive Beschreibung dessen, wie Dinge für das Wesen selbst aus seiner eigenen Perspektive scheinen.
Bestimmte Arten von Erfahrungen könnten wichtiger sein als andere, wie Freude und Leid (das heißt Erfahrungen, die sich für das betreffende Wesen selbst gut oder schlecht anfühlen). Eine besonders prominente Form des Leidens ist der körperliche Schmerz, der oft im Mittelpunkt der Diskussion steht.
Aber selbst wenn wir uns auf körperlichen Schmerz konzentrieren, ist es wichtig, uns im klaren darüber zu sein, was wir damit meinen. Einerseits sollte das bewusste Erleben von Schmerz von bloßer Nozizeption, der körperlichen Wahrnehmung von Schäden am Körper, unterschieden werden. Zum Beispiel, wenn Sie sich in eine Schlafposition rollen, die Schäden an Ihren Gelenken riskiert, werden Ihre Nerven die Belastung wahrnehmen und Signale ans Gehirn senden, die Sie dazu veranlassen, die Position zu verändern. Wenn Sie wach wären, könnte dies von einem bewussten Erleben von Schmerz begleitet sein, aber da Sie nicht wach sind, scheint das ‘Schmerzsystem’ unbewusst zu funktionieren.
Andererseits sollten wir nicht davon ausgehen, dass bewusster Schmerz unbedingt bedeutet, dass man weiß, dass man Schmerzen hat. Diese Art von Selbstbewusstsein scheint fortgeschrittener zu sein als das Bewusstsein selbst: Wir würden denken, dass viele Tiere bewusst, aber nicht, dass sie sich selbst bewusst sind. Ein Hund, der Schmerzen hat, kann wahrscheinlich nicht denken “dies ist eine bewusste Erfahrung von Schmerz”, selbst wenn er eine Schmerz-Erfahrung hat.
Frage 3: Was macht uns empfindungsfähig?
Was ermöglicht das bewusste Erleben? Leider ist dies ein profund schwieriges Problem – der Philosoph David Chalmers nannte es bekanntlich “das harte Problem”. Einerseits gibt es die körperliche Gehirn-Chemie, andererseits gibt es das, was es bedeutet, man selbst zu sein. Die beiden scheinen völlig verschieden zu sein, also wie entsteht das eine aus dem anderen?
Jetzt könnte man sagen: das eine entsteht eben nicht aus dem anderen! Das Gehirn hat damit nichts zu tun: Bewusste Erfahrungen finden in der Seele statt, einem immateriellen Teil der Person. Weil sie immateriell ist, können wir sie mit keinem wissenschaftlichen Gerät erkennen und wissen deshalb nicht, wo sie herkommt oder wohin sie nach dem Tod geht.
Das Problem mit dieser Art von Ansicht (oft als ‘Substanz-Dualismus’ bezeichnet, weil sie zwei Substanzen unterscheidet: einen materiellen Körper und eine immaterielle Seele) ist, dass es unmöglich ist zu wissen, welche Wesen empfindungsfähig sind. Wir können ihr Verhalten, ihre Körper und ihre Gehirne beobachten, aber ohne Seele bedeutet das alles nichts – und die Seele können wir nicht erkennen. Vielleicht wird die Seele bei der Empfängnis, bei der Geburt, bei der Einnistung oder bei den ersten Bewegungen des Embryos mit dem Körper verbunden; vielleicht entsteht jedes Mal, wenn sich ein neues Spermatozoon in jemandes Hoden bildet, eine Seele. Wir wissen das nicht, und wir können keine Gesetze auf etwas gründen, das wir nicht erkennen können.
Was wir erkennen können, ist, dass elektrische Aktivität in bestimmten Gehirnregionen sehr konsistent mit bestimmten Arten von Erfahrungen korreliert ist. Um beim Beispiel des Schmerzes zu bleiben, wissen wir, dass Schmerzen konsistent mit Aktivität in bestimmten Teilen des zerebralen Cortex (der faltigen äußeren Schicht des Gehirns) korrelieren. Diese Aktivität ist nicht isoliert, sondern eng mit Aktivität im Thalamus (einer Art zentralem Verteilerknoten zwischen Cortex und Gehirnstamm) verbunden. Das löst nicht das harte Problem (“warum korreliert diese Gehirnaktivität mit bewusstem Schmerz?”) aber es ist ein gutes Indiz für irgendeine Art von engem Zusammenhang.
Also sind die Verbindungen zwischen dem Thalamus und bestimmten Regionen des Cortex an der Schmerzempfindung beteiligt. Was ist mit dem bewussten Erleben im Allgemeinen? Das ist schwieriger zu sagen. Einige Theorien sagen, dass dafür die Integration vieler corticaler Bereiche in einen ‘globalen Arbeitsbereich’ notwending ist, während andere von minimalen Anforderungen an die Empfindungsfähigkeit ausgehen, die die Großhirnrinde überhaupt nicht einschließen. Diese Frage könnte für die Empfindungsfähigkeit von Tieren sehr wichtig sein: Die erste, “maximale” Version könnte es schwierig machen, definitive Fälle von Bewusstsein bei Tieren zu finden, während die “minimale” Version es wahrscheinlich macht, dass sogar wirbellosen Tieren, wie Insekten, Bewusstsein zugeschrieben werden müsste. In letzter Zeit ist die Frage in der Vordergrund gerückt, wie weit sich diese verschiedenen Theorien empirisch testen lassen. Aber im Moment bleibt die Unsicherheit bestehen.
Frage 4: Welche Gehirnstrukturen haben Embryonen und Föten?
Basierend auf dem, was wir über die Neurophysiologie von Schmerz wissen, was sollen wir von Gesetzen halten, die den Schmerz von Föten regeln wollen?
Diese Gesetze suchen typischerweise, Abtreibungen nach 20 Wochen aufgrund angeblicher wissenschaftlicher Beweise zu beschränken, dass Föten in diesem Zeitpunkt Schmerz empfinden können. Sie unterscheiden jedoch in der Regel nicht zwischen Schmerz als bewusster Erfahrung und bloßer Nozizeption: Ein 20-Wochen-Fötus hat “Schmerzsensoren” in seiner Haut und anderen Geweben, aber ohne eine ordnungsgemäße Verbindung zu den richtigen Gehirnregionen, diese Sensoren werden es nichts fühlen lassen – genauso wie ein menschliches Auge nicht genug für Sehen ist, wenn es keine Verbindung zum Sehzentrum des Gehirns hat). Wie der Philosoph L. Syd M. Johnson feststellt:
Es ist unklar, inwieweit diese Gesetze auf tatsächlicher Verwirrung über den Unterschied zwischen Nozizeption und bewusstem Schmerz basieren, oder ob sie politisch auf dieser Verwirrung aufbauen, um den Zugang zur Abtreibung aus anderen Gründen zu beschränken.
Beachten Sie, dass fötale Nozizeption auch für eine weitere Frage von Bedeutung ist: was ist Anästhesie während einer Operation an einem Fötus wert? Selbst unbewusste Nozizeption kann viele körperliche Reaktionen hervorrufen, wie erhöhte Herzfrequenz und die Freisetzung von Stresshormonen. Dies könnte Auswirkungen auf das sich entwickelnde Gehirn haben, was von Bedeutung ist, wenn der Fötus zu einer Person wird, die mit diesen Auswirkungen leben muss. Aber das bedeutet nicht, dass die automatischen Reaktionen schon in diesem Stadium moralisch relevant sind.
Wann entwickelt also ein Fötus die Gehirnstrukturen, die an der Schmerzwahrnehmung beteiligt sind – den Thalamus, die Inselrinde, den cingulären Cortex und ein stabiles Rückmeldungssystem zwischen ihnen?
Wahrscheinlich erst um die 30. Woche, in der frühen Phase des dritten Trimesters. Deshalb ist die häufigste Position unter Entwicklungs-Neurowissenschaftlern, dass fötaler Schmerz bis zu diesem späten Zeitpunkt nicht existiert. Und obwohl Schmerz nicht die einzige relevante Art von Bewusstsein ist, ist es wahrscheinlich, dass das menschliche Bewusstsein im Allgemeinen auch die Reifung von thalamokortikalen Verbindungen erfordern wird.
Diese geläufige Position könnte aber auch falsch sein, in beide Richtungen.
Es könnte sein, dass neben den spezifischen Bereichen der Großhirnrinde, die eine Erfahrung in Schmerz verwandeln, das Bewusstsein ein bestimmtes Maß an psychologischer Entwicklung und Organisation erfordert, das erst aus postnatalen Interaktionen entsteht. Alternativ könnte es sein, dass sogar ganz grundlegende neuronale Strukturen, unterhalb des Cortex, eine Form von Bewusstsein unterstützen können. Der Psychologe Stuart Derbyshire vertrat die erste Position (kein Bewusstsein bis zur Geburt) in einem Paper von 2008, hat aber in einem neueren Paper argumentiert, dass die zweite Position (Bewusstsein vor 30 Wochen möglich) nicht ausgeschlossen werden kann. Neue Entdeckungen könnten uns zwingen, unsere Ansichten zu überdenken. Derzeit ist jedoch die Konsensposition immer noch, dass Empfindungsfähigkeit wahrscheinlich um die 30. Woche beginnt.
Frage 5: Wie wichtig ist Potenzial?
Die Wissenschaft könnte uns sagen, welche Gehirnstrukturen ein Fötus jetzt hat und welche es in der Zukunft entwickeln könnte. Aber sie kann uns nicht sagen, wie wichtig dieser zweite Faktor ist. Wenn wir sicher sein könnten, dass ein Fötus im ersten Trimester nicht empfindungsfähig ist, aber das Potenzial hat, empfindungsfähig zu werden, würde das einen Untereschied machen für sein Recht auf Leben jetzt?
Auf der einen Seite, ist es nicht plausibel zu sagen, dass Potenzial niemals berücksichtigt werden soll: Die Tatsache, dass ein kleines Kind das Potenzial hat, erwachsen zu werden, ist wichtig für unsere Beziehung zu dem Kind. Aber es ist genauso unplausibel zu sagen, dass alles, was an einem Prozess beteiligt ist, der zu einer bewussten Person führt, die Rechte einer bewussten Person haben sollte. Wäre das so, dann wären unsere Keimdrüsen voller potenzieller Menschen, die tragischerweise regelmäßig sterben.
Im Alltag hängt es sehr vom Kontext ab, wie wichtig wir “Potenzial” ansehen. Es hängt davon ab, wie schnell, leicht oder zuverlässig wir eine bestimmte Möglichkeit verwirklichen können udn wie sehr wir abhängig sind von externer Unterstützung. Wir könnten versuchen, dem Fötus zu unterschiedlichen Stadien seiner Entwicklung unterschiedliche Grade von moralischem Status zuzuschreiben, davon abhängig, wie nahe es daran ist, wahrnehmungsfähig zu werden (bei 26 Wochen ist es direkt an der Grenze, aber bei 10 Wochen ist es weiter entfernt usw). Wir könnten diese Überlegungen sogar bis zur Empfängnis zurückverfolgen. Vielleicht sollte ein unbefruchtetes menschliches Ei, das das Potenzial hat, befruchtet zu werden und sich in eine Person zu entwickeln, einen Bruchteil eines moralischen Status haben. Aber das erscheint absurd: warum?
Oft wird gesagt, dass das unbefruchtete Ei nicht dasselbe Wesen ist wie das Kind, in das es sich entwickelt – während das befruchtete Ei identisch mit dem Kind ist. Aber hier müssen wir uns mit dem philosophischen Problem der persönlichen Identität auseinandersetzen: Was macht uns die gleiche Person über die Zeit hinweg? Vor vielen Jahren gab es ein Embryo in der Gebärmutter meiner Mutter: War das ich, nur in einer kleineren und einfacheren Form, oder war das nur ein Teil des Prozesses, der zu meinem Dasein führte? Warum oder warum nicht? Wie ziehen wir die Grenzen des “ich”? Im allgemeinen betonen einige Antworten die Kontinuität des körperlichen Lebens und andere die Kontinuität des geistigen Lebens. Nach der ersten Art von Ansicht war das Embryo ich. Nach der zweiten Ansicht war es nur das Gefäß, in dem ich heranwachsen würde – ich begann erst zu existieren, als meine bewusste Erfahrung zum ersten Mal zusammenkam, oder als die neuronale Struktur, die dafür notwendig ist, zum ersten Mal gebildet wurde.
Von allen hier besprochenen Fragen könnte dies die am wenigsten gewisse und offenste sein. Es scheint am sichersten, Potenzial als etwas zu sehen, das den moralischen Status eines Wesens verstärkt oder verbessert, wenn wir bereits wissen, dass es einen hat. Moralischen Status einem Embryo allein aufgrund seines Potenzials zuzuweisen, erfordert Annahmen, die umstritten sind.
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Wir haben fünf schwierige Fragen betrachtet, von denen keine eine offensichtlich richtige Antwort hat. Ich habe versucht anzudeuten, welche Antworten wahrscheinlicher sind, akzeptiert zu werden und warum. Das sind:
- Dass Sentienz (Empfindungsfähigkeit) für den moralischen Status wichtig ist;
- dass sie am besten als subjektive Erfahrung verstanden wird;
- dass sie von der Großhirnrinde abhängt;
- dass diese erst um die 30. Woche funktionsfähig ist;
- und dass das Potenzial den moralischen Status verstärkt, anstatt ihn ursprünglich zu begründen.
Diese Kombination von Argumenten unterstützt die Annahme, dass ein Fötus im dritten Trimester einen moralischen Status hat; im ersten Trimester keinen hat; und im zweiten Trimester wahrscheinlich keinen hat, obwohl wir uns nicht sicher sein können. Das ist unabhängig von den ebenso wichtigen Fragen, wie der moralische Status, den ein Fötus haben könnte, gegen die körperliche Autonomie der schwangeren Person abgewogen werden kann und wie das Gesetz in diese Abwägung eingreifen sollte.
Aber wenn es richtig ist, dass ein Fötus oder Embryo im ersten Trimester keinen moralischen Status hat, ist das bereits eine wichtige Einsicht. Das bedeutet nämlich, dass mehr als 90% der Abtreibungen nicht nur erlaubt, sondern moralisch unkompliziert sind. Ein moralischer Status im ersten Trimester würde entweder erfordern, dass wir das Embryo als Mensch sehen, was Substanz-Dualismus in Verbindung mit der Behauptung, dass eine Seele bei der Geburt eingepflanzt wird mit sich bringt; oder die Zuweisung von enormem moralischem Gewicht an das Potenzial des Embryos, ohne Berücksichtigung seiner tatsächlich vorhandenen Eigenschaften. Alle diese Positionen stehen vor erheblichen Herausforderungen und sind hochumstritten.
Darüber hinaus, wenn spät entwickelte Föten einen moralischen Status haben und früh entwickelte Föten oder Embryos nicht, bedeutet das, dass Hindernisse für Abtreibungen moralisch unkomplizierte frühe Abtreibungen in moralisch komplizierte späte umwandeln. Das schließt Verzögerungen, Kosten, Reisekosten, Scham oder rechtliche Risiken für schwangere Personen ein. In diesem Sinne könnte das Verständnis des moralischen Status von spätentwickelten Föten ein Grund sein, den Zugang zu Abtreibungen zu erweitern, anstatt ihn einzuschränken.
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Luke Roelofs ist Postdoc am Centre for Mind, Brain and Consciousness der NYU. Er arbeitet über Bewusstsein – wie es strukturiert ist, wie wir darüber Bescheid wissen können und warum diese Fragen wichtig sind. Er ist der Autor von Combining Minds und Empathic Reason, einem in Arbeit befindlichen Buch über die ethische Bedeutung imaginativer Phantasie; weitere Informationen zu seiner Arbeit finden Sie auf lukeroelofs.com.
Titelbild: Ben Sweet auf Unsplash.
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