Was hat “Der Marsch der Pinguine” mit Kant zu tun?
Die unter uns, die neugierig auf Philosophie sind und sich damit beschäftigen, werden oft auf die Probe gestellt. Ein häufiges Szenario könnte ungefähr wie folgt aussehen.
Stell dir vor, du bist am Samstagabend beim Essen mit Freunden, und das Thema Gewalt kommt auf. Vielleicht diskutierst du über ein kürzlich in den Nachrichten erwähntes Verbrechen, als einer deiner Freunde folgende Aussage macht:
“Letzte Woche habe ich den Dokumentarfilm ‘Marsch der Pinguine’ gesehen. Zu meiner völligen Überraschung sind diese Tiere sehr gewalttätig! Bis zu dem Punkt, dass, wenn ein Pinguinbaby seine Eltern verliert, die anderen Pinguine es einfach töten, weil niemand mehr da ist, der Nahrung für das Baby heranschaffen kann. Ist das nicht unfair? Es gibt eine Menge Gewalt im Tierreich. Ich sehe ständig Dokumentationen und das ist ein häufiges Motiv. Nun, da wir Menschen auch Tiere sind, ist es in Ordnung, wenn wir auch gewalttätig sind.”
Du grübelst eine Weile und kommst zu dem Schluss, dass mit der letzten Aussage deines Freundes etwas schief gelaufen sein muss. Du stöberst in den reichen Massen an philosophischem Wissen, das du dir im Laufe der Jahre geduldig angeeignet hast. Du kommst zum Schluss, dass die Schlussfolgerung deines Freundes möglicherweise falsch sein könnte.
Du wartest bis zum Nachtisch, um das Thema erneut aufzugreifen. Du drehst dich zu deinem Freund um und sagst:
“Kant würde mit deiner Aussage über Gewalt bei Menschen nicht einverstanden sein!”
Jetzt sind alle Augen auf dich gerichtet und du hast keine Wahl, als deine philosophische Mission so gut wie möglich durchzuführen. Du fängst an zu erklären: Menschen als Tiere anzusehen bedeutet nach Kant, ihnen ihre Menschlichkeit zu nehmen. Die menschliche Rationalität ist die Basis für Menschenwürde.
“Wir Menschen sind von Natur aus mit einem Geschenk ausgestattet, das uns die Freiheit gibt, richtig zu handeln. Pinguine können nicht entscheiden, was ethisch am besten ist, aber wir haben diese Fähigkeit. Die Freiheit zu entscheiden, wie wir handeln wollen, liegt allen unseren Handlungen zugrunde.
Wir wären nicht in der Lage, überhaupt über Ethik zu sprechen, wenn wir uns nicht als freie Wesen sehen könnten, die in der Lage sind, Entscheidungen zu treffen. Aristoteles hat unsere Handlungen in freiwillige und unfreiwillige eingeteilt. Du kannst nur für etwas verantwortlich gemacht werden, das du getan hast, weil man von dir erwartet, dass du es freiwillig ausgeführt hast. Du kannst vorhandene Informationen berücksichtigen, alle Fakten abwägen und eine Entscheidung treffen, die dann zu deiner Handlung führen wird.
Für Kant funktionieren Pinguine nicht so. Sie gehören ausschließlich in die Welt der Natur, da sie keine rationalen Wesen sind und alle ihre Handlungen unfreiwillig sind: sie unterliegen vorgegebenen Regeln der Natur. Ein Pinguin kann nicht entscheiden, ob es richtig oder falsch ist, das Baby zu töten: er ist programmiert, das zu tun. Für Kant gibt es keine Freiheit in der Natur: was immer in der Natur geschieht, geschieht so aufgund physikalischer Prinzipien.
Menschen können sich jedoch von diesen vorgegebenen Verhaltensweisen lösen, und zwar mit Hilfe ihrer Rationalität, die ein Geschenk der Natur ist. Kant glaubte, dass wir unvollkommen sind, dass wir oft faul sind, dass wir dazu neigen, das zu tun, was uns nützt, und dass wir machmal doppelte Standards haben. Aber er betonte auch, dass die auf Rationalität basierende Menschlichkeit uns die Möglichkeit gibt, uns in der Zukunft zu bessern.
Also selbst wenn Pinguine sich gegenseitig töten, bedeutet das nicht, dass wir Menschen das auch tun müssen.”
Zu diesem Zeitpunkt hast du sicherlich die Neugierde aller geweckt und sie wollen mehr wissen. Dein Freund fragt dich in einem sarkastischem Ton:
“Das ist alles schön und gut, aber was ist mit Emotionen? Ich bin sicherlich nicht immer rational. Zum Beispiel habe ich mich heute Morgen über einen Autofahrer aufgeregt. Bedeutet das, dass ich meine Emotionen überwinden und so tun muss, als wäre ich immer rational?”
“Auf keinen Fall”, antwortest du mit einem Grinsen, “aber das ist nicht der Punkt. Sich über jemanden aufregen ist nicht das Gleiche wie zu versuchen, ihm zu schaden. Tatsächlich bin ich ziemlich sicher, dass du die Person, die dich geärgert hast, weiterfahren lassen hast. Du würdest nicht jemanden verletzen wollen, nur weil er unhöflich gewesen ist. Und mit dieser Entscheidung hast du, mein Freund, rational gehandelt.”
“Bravo! Aber die Dinge werden jetzt etwas komplizierter und du brauchst mehr Hilfe von anderen Philosophen, um deinen Standpunkt abzurunden.
“Hannah Arendt,” sagst du, “die große politische Philosophin, hat ihre Beschreibung von politischem Handeln auf dieser Kantschen Position aufgebaut. Tiere können nicht politisch sein, weil sie sich nur um ihr Überleben sorgen. Das ist wahrscheinlich der Grund, warum die Pinguine im Film das Baby getötet haben: sie sind nicht in der Lage, das Baby zu ernähren und wenn sie es versuchen würden, könnten noch mehr von ihnen umkommen.”
“Wir Menschen kennen hingegen drei Arten von Aktivität: Arbeiten, Herstellen und politisches Handeln. Arbeit bezieht sich auf unsere täglichen Geschäfte, die uns am Leben erhalten, während der Akt des Herstellens die Welt aufbaut, in der wir leben – und das, durch die Werkzeuge und Artefakte, die wir erschaffen. Gleichzeitig sind wir aber auch rationale Wesen, die spontane Handlungen ausführen können: wir können unsere Alltagsgeschäfte anhalten und uns auf andere Menschen einlassen, wodurch wir zur Freiheit gelangen: zum Beispiel, indem wir an Demonstrationen teilnehmen oder zusammenkommen, um zusammen mit anderen eine Entscheidung zu treffen. Wir sind in unseren Handlungen nicht vorbestimmt, wie die Pinguine es sind. Stattdessen sind wir eine Individuen, die zwischen allerlei Möglichkeiten wählen können. Diese Fähigkeit wird uns von der Freiheit gegeben, die all unseren rationalen Aktivitäten zugrunde liegt.”
An diesem Punkt hat die ganze Tischrunde den Hut vor dir gezogen. Du bist nun offiziell der Philosophieguru in deinem Freundeskreis. Und all das hast du Kant zu verdanken!
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Titelbild: Ian Parker auf Unsplash.