Stoische Emotionen
Die eigenen Gefühle kontrollieren
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Drei Stoische Philosophen
Ein Blick auf die drei bekanntesten Stoiker genügt, um uns zu überzeugen, dass hier etwas Außergewöhnliches vor sich geht: Epiktet (55-135 n.Chr.) wurde als Sklave geboren. Seneca der Jüngere (4 v.Chr.-65 n.Chr.) war ein gefeierter Philosoph und Schriftsteller und Lehrer eines verrückten römischen Kaisers. Marcus Aurelius (121-180 n.Chr.) war selbst fast zwanzig Jahre lang Kaiser von Rom. Er war aber auch Soldat und starb in den Wäldern des heutigen Österreichs beim Kampf gegen die Germanen, die Rom bedrohten.
Ein Sklave, ein Mann der Gesellschaft und der Literatur, ein Soldaten-Kaiser: und sie teilten alle die gleiche Lebensphilosophie. Sie waren alle Stoiker. Welche Philosophie könnte sich an eine so vielfältige Sammlung von Menschen richten, das Leben von Sklaven und Kaisern gleichermaßen prägen? Könnte es sein, dass eine so flexible Philosophie uns auch heute dabei helfen kann, unsere eigenen Leben besser zu gestalten?
Alles unter Kontrolle
Alles, was dir passiert, ist entweder in deiner Kontrolle oder nicht.
Dies ist die erste wichtige Erkenntnis des Stoizismus. Wenn du den Bus verpasst, solltest du dir darüber im Klaren sein, dass dies in deiner Kontrolle lag: Du hättest früher aufstehen können und dann hättest du den Bus nicht verpasst. Wenn du in einer Prüfung durchfällst, hättest du mehr lernen können, und dann wärst du nicht durchgefallen. Für Dinge, die in deiner Kontrolle sind, ist der Weg, glücklicher zu werden, tatsächlich die Kontrolle darüber zu übernehmen und das Notwendige zu tun, um sie richtig zu machen.
Aber was ist wenn Situationen nicht in deiner Kontrolle sind? Du bekommst eine Erkältung. Du kommst spät zur Arbeit, weil der Bus (den du pünktlich erwischt hast) kaputt gegangen ist. Du verlierst all dein Geld in einer Finanzkrise. Dein Freund will dich verlassen. Wie kannst du mit Ereignissen umgehen, die außerhalb deiner Kontrolle sind?
Natürlich ist das Erste, was du tun musst, erkennen, dass du keine Kontrolle hast. Versuchen, das zu kontrollieren, was zu kontrollieren unmöglich ist, wird dich mit Sicherheit unglücklich machen. Du kannst deinen Freund nicht dazu zwingen, dich zu lieben. Du kannst nicht ändern, dass du dein Geld verloren hast. Du kannst das Wetter nicht ändern. Selbst wütend über solche Dinge zu werden ist irrational und schädlich für dich selbst. Das hat keinen Sinn. Also ist die erste wichtige Bedingung fürs Glücklichsein, die Fähigkeit zu unterscheiden, was du kontrollieren kannst und was nicht. Zu versuchen, das zu kontrollieren, was man nicht kann, ist albern. Aufzugeben, was man kontrollieren könnte, heißt Chancen auf künftige Zufriedenheit aufzugeben. Wo wir etwas zum besseren ändern können, sollten wir das auch tun; sonst werden wir auch, ohne guten Grund, auf potentielles Glück verzichten.
Stoische Wissenschaft
Aber wie unterscheidet man zwischen dem, was man kontrollieren kann und dem, was man nicht kontrollieren kann?
Dies ist eine wichtige Fähigkeit und muss geübt werden. Man wird besser darin, wenn man mehr Wissen über die Welt hat und darüber, wie sie funktioniert. Können wir das Wetter beeinflussen? Kann ich meinen Freund dazu bringen, bei mir zu bleiben? Was genau sind meine Optionen in einer bestimmten Situation? Oft sind wir in unseren eigenen Angelegenheiten im Irrtum. Klar zu sehen, welche Fähigkeiten man hat und was man im eigenen Leben beeinflussen kann ist wichtig, um die eigenen Kräfte und die eigene Kontrolle über die Welt richtig einzuschätzen. Man muss sich von Träumen und Illusionen verabschieden, die einen täuschen. Stattdessen muss man die Welt so sehen, wie sie ist, und dann klar erkennen, welche ihrer Aspekte man kontrollieren kann und welche nicht.
Dies ist das ultimative Ziel der Stoischen Wissenschaft. Die Stoiker hatten ein großes Interesse an der Natur und ihrem Funktionieren, aber das Wissen über die Natur wurde nicht für sich selbst als wertvoll betrachtet, wie es in unserem modernen Verständnis von Wissenschaft der Fall ist.
Die Stoiker unterschieden zwischen “Physik”, “Logik” und “Ethik”, aber diese Worte hatten etwas andere Bedeutungen als das, was wir heute darunter verstehen. “Physik” umfasste ungefähr das Wissen darüber, wie die Natur funktioniert, und würde Astronomie, Biologie und sogar Theologie einschließen. “Logik” war die Studie des richtigen Denkens: das Verstehen und Erkennen seiner Werte, das Vermeiden von Fehlern und schlechten Argumenten, das Verstehen der Logik der Sprache und der Gesetze des Denkens, damit man starke Argumente vorbringen und ungültiges und fehlerhaftes Denken vermeiden kann. Und “Ethik” war die Kerndisziplin des Lebens: die Fähigkeit, das eigene Leben nach den Gesetzen der Natur zu leben, die eigenen Pflichten zu erfüllen, und die Tugenden im Alltag zu verwirklichen.
Es ist leicht zu verstehen, wie diese drei Disziplinen zusammenarbeiten. Wenn man nicht unglücklich werden will, muss man verstehen, wie die Prozesse in der Natur funktionieren. Das heißt, man muss die “Physik” verstehen. Wenn man das Funktionieren von Geschlecht und Schwangerschaft nicht versteht, wird man keine effektive Familienplanung betreiben können. Wenn man seine eigene Psychologie nicht ausreichend versteht, wird man dem Materialismus, dem endlosen Begehren materieller Güter, Suchtverhalten und anderen Leiden des Geistes verfallen. Wenn man die maximal mögliche Kontrolle über seine Umgebung ausüben will, muss man das bestmögliche Wissen haben; das genaueste Verständnis dafür, wie diese Umgebung funktioniert und welche Gesetze sie befolgt.
Die gleichen Regeln gelten auch für die “Logik”. Ohne Verständnis für Fehlschlüsse, für gute und schlechte Argumente, für Deduktion, Induktion und Wahrscheinlichkeit sowie für die grundlegenden Gesetze von Sprache und Denken ist es leicht, beim Denken Fehler zu machen. Das Fähigkeit, korrekt zu denken und seine Gedanken zu strukturieren, ist für ein erfolgreiches Leben notwendig, in dem wir die volle Kontrolle über unsere Umgebung und unsere eigenen Gedanken haben.
Dinge außerhalb unserer Kontrolle
So ist aber mit den Dingen, die man nicht kontrollieren kann?
Nehmen wir als Beispiel: Du versuchst zu schlafen, aber draußen vor dem Fenster graben Arbeiter mit Presslufthämmern die Straße auf. Was kann man da tun? Nun, zunächst könnte man versuchen, Kontrolle auszuüben. Die Polizei rufen, wenn es Nacht ist. Woanders übernachten. Ohrstöpsel kaufen.
Angenommen, all das funktioniert nicht und man kann immer noch nicht schlafen und hat keine Kontrolle über das, was den eigenen Schlaf stört. Was kann man dann noch tun?
Wir sollten uns vergegenwärtigen, sagen die Stoiker, dass dieser Lärm nicht für alle Menschen unangenehm sein wird. Es wird immer bestimmte Menschen geben, für die das Aufbohren einer Straße ein willkommener Lärm ist: der Hersteller des Presslufthammers, der an den Erfolg seines Unternehmens erinnert wird. Der Ingenieur, der den Presslufthammer hergestellt hat und der versuchen wird, anhand des Geräuschs zu beurteilen, ob der Presslufthammer wie vorgesehen arbeitet. Derjenige, der die Straße aufreißen ließ, weil die Stadt eine neue Lampe installieren möchte, die nicht in die Fenster des Nachbarhauses scheint. Die Bewohner dieses Hauses, die nun endlich in der Nacht schlafen können, ohne vom Licht geblendet zu werden.
Wenn es also so viele Menschen gibt, die das Bohren nicht stört, dann ist an dem Geräusch selbst nichts auszusetzen. Was das Geräusch für einige Leute unangenehm macht, ist nicht das Geräusch selbst, sondern ihre eigene Einstellung dazu: ihre Ablehnung des Geräusches, ihre Annahme, dass es lästig ist. Aber könnten diese Leute das Geräusch nicht auch anders beurteilen? Und wie könnten sie das tun?
Man könnte vorschlagen: Schließe deine Augen und versuche wirklich zuzuhören. Welche Art von Motor treibt den Presslufthammer an? Ist es ein Benzinmotor, wie bei einem Motorrad? Oder ist es ein Elektromotor? Wie schnell arbeitet er? Hörst du nur den Presslufthammer, oder auch das zersplitternde Pflaster? Machen unterschiedliche Steine beim Brechen unterschiedliche Geräusche? Wie lange können Arbeiter bohren, bevor sie eine Pause machen? Wenn sie eine Pause machen, ist es wegen des Arbeiters, der eine Pause braucht, oder muss der Presslufthammer abkühlen?
Stelle dir vor, du möchtest eine Geschichte über einen Arbeiter wie ihn schreiben: Nimm ein Stück Papier und fange an, Notizen zu machen: Wie genau arbeitet er? Wie lange sind die Bohrphasen? Wie lange die Pausen? Wer räumt das Geröll weg? Derselbe Arbeiter oder ein anderer? Entfernen sie das Geröll während der erste noch den Gehweg zerbricht, oder hört das Bohren auf, damit die anderen kommen und aufräumen können? Kommunizieren die Arbeiter während der Arbeit? Sie können sicher nicht sprechen, aber schauen sie sich an? Zwinkern sie? Machen sie Witze? Benutzen sie Zeichensprache? Haben sie andere Möglichkeiten, trotz des ständigen Lärms zu kommunizieren? Kannst du ihre Zeichen durch bloßes Hinsehen aus deinem Fenster entschlüsseln?
Die Freiheit des Geistes
Und plötzlich wird dir klar, dass das Bohren nicht mehr nervig ist: es ist interessant. Es ist eine einzigartige Erfahrung, die es dir ermöglicht, etwas über das Leben von Fremden zu lernen, die du niemals treffen wirst, über die Art, wie diese Arbeiter miteinander sprechen und sich verhalten. Vielleicht auch über ihren Humor, wie sie einander vertrauen und wie sie während eines langen Arbeitstags beim Aufbrechen von Pflastersteinen den Verstand behalten.
Du kannst etwas über die verschiedenen Arten von Bohrmaschinen lernen, wie Straßenlampen installiert werden und wie die gesamte Infrastruktur deiner Stadt funktioniert, auf die du jeden einzelnen Tag angewiesen bist, die du aber nie bewusst wahrgenommen hast.
Das ist also der zweite Stoische Trick: Selbst wenn du ein externes Ereignis nicht kontrollieren kannst, kannst du doch immer noch deine eigene Reaktion darauf kontrollieren. Es gibt nichts, was dich jemals dazu zwingen könnte, das Bohren als unangenehm wahrzunehmen. Du tust es normalerweise, aber du musst es nicht tun. Am Ende sind deine Gedanken frei. Was in deinem Kopf passiert ist nicht das Ereignis selbst, nicht das Bohren. Unser Geist ist frei, auf seine eigene Art auf das Bohren zu reagieren. Und dies kann ebenso leicht Interesse und Faszination sein, wie sinnloser Ärger und Wut.
Der Stoiker erkennt, dass die Welt uns mit allerlei Dingen konfrontiert, die wir nicht mögen. Täglich begegnen wir dummen, nervigen, traurigen, vernichtenden, oder auch frohen Ereignissen. Aber der Einflussbereich der Welt hört an der Grenze unserer Sinne auf. Darüber hinaus kann sie nicht eindringen.
Was in unserem Geist passiert, ist immer das Ergebnis unserer eigenen Wahl, und hängt nicht von der Außenwelt ab. Ein Ereignis ist, was es ist, aber es ist immer von den Gedanken getrennt, die wir aufgrund dieses Ereignisses erschaffen. Unsere Gedanken sind frei und es liegt immer in unserer Kontrolle, interessante, positive, neugierige, liebevolle Gedanken über Ereignisse zu haben, die wir nicht ändern können – anstatt zerstörerisch und genervt zu reagieren.
Laut diesem Kernstück des stoischen Glaubens, sind wir alle die Meister unseres eigenen Geistes. Und deshalb sollen wir diese Kontrolle nutzen, um unsere eigenen Reaktionen auf das Universum anzupassen, sodass sie uns glücklicher machen und unser eigenes Universum zu einem besseren Ort. Das ist immer in unserer Macht und niemand kann uns jemals diese Fähigkeit nehmen.